Lesung aus Werken von Annie Ernaux
Lesung aus Werken von Annie Ernaux Am 29. 11. 2022 stellte uns Mariana Durt im Kulturcafé die Grande Dame der französischen Literaturszene vor, Annie Ernaux. Sie zeigte sich dabei sehr angetan von dieser Schriftstellerin und vermittelte den Zuhörenden auf anschauliche Weise einen Eindruck von derem umfangreichen literarischen Werk.
Annie Ernaux, der am 10. 12. 2022 der Literatur-Nobelpreis verliehen wird, hat mehr als zwanzig Werke publiziert, von denen bislang nur wenige auf deutsch erschienen sind. Der Durchbruch in Deutschland gelang ihr 2017 mit ihrem Werk „Die Jahre“. Ernaux wurde im Jahr 1940 geboren und wuchs in sehr einfachen Verhältnissen auf. Über den Besuch einer katholischen Privatschule und ein Lehramtsstudium gelang ihr der soziale Aufstieg in ein bürgerliches Leben mit Ehemann und zwei Söhnen. Nach ihrer Scheidung im Jahr 1981 führte sie ein sehr selbstbestimmtes Beziehungsleben.
Die Schriftstellerin gilt als „Meisterin der Autofiktion“. Ernaux, die sich als „Ethnologin ihrer selbst“ bezeichnet, benutzt ihre Biographie als Material, wobei sie diese verdichtet und literarisch transformiert. Wichtige Quellen sind dabei Fotos und Tagebuch-Eintragungen, aber z.B. auch Zeitungsartikel und Erinnerungen an Kinofilme oder Chansons. Ernaux versteht sich als Chronistin der Zeitgeschichte auf der Ebene des Alltagslebens; ihr Anliegen sieht sie darin, „etwas von der Zeit, die nie wiederkommt“, zu retten. Immer wieder richtet sie dafür den Fokus auf die jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Ihre Werke liefern lebendige Milieustudien und soziale Psychogramme. Anhand des Werkes „Die Scham“ arbeitete Mariana Durt zentrale Elemente und Themen von Ernauxs Lebensgeschichte heraus. Ernauxs in Kindheit und Jugendzeit ausgebildeten Schamgefühle speisen sich aus drei Quellen: aus der Frauenrolle, wie sie in den vierziger und fünfziger Jahren definiert wurde, aus ihrem niedrigen sozialen Herkunftsmilieu sowie ganz besonders aus einer traumatischen Erfahrung im Alter von zwölf Jahren, bei der sie Augenzeugin eines Gewaltangriffs des Vaters auf die Mutter war.
Ernaux gilt als eine hochmoderne, gewagte, meisterliche, emanzipierte Schriftstellerin, der es gelingt, durch ihr Werk eine „Allianz von Autobiographie und Historiographie“ zu erschaffen. Kritisiert wird von einigen Medien und Literaturkritikern allerdings ihre radikale politische Linksausrichtung, ihr unverholener Anti-Amerikanismus und ihre teilweise mehr soziologische als literarische Darstellungsweise. Wir danken der Referentin Mariana Durt für ihre lebendige Vorstellung dieser spannenden Autorin, die sie anhand gut ausgewählter längerer Zitate den Zuhörenden nahebrachte. Viele wird sie dadurch sicherlich zu eigener Lektüre anregen.
Renate Krause-Isermann