Ich zähmte die Wölfin

Die französische Schriftstellerin Marguerite Yourcenar (1903–1987), die als erste Frau in die Académie française aufgenommen wurde, verfasst auf Grundlage intensiver wissenschaftlicher Recherchen eine fiktive Biographie des römischen Kaisers Hadrian. Sie wählt für den Roman die Briefform.

In einem fiktiven Brief an seinen Adoptivenkel, den späteren Kaiser Marc Aurel, lässt sie den alternden Hadrian in einer Art Selbstgespräch sein eigenes Leben (76 n.Chr. – 138 n.Chr.) beschreiben . Er reflektiert seine Friedenspolitik in Hinblick auf seinen Vorgänger Kaiser Trajan und seine vielfältigen politischen und administrativen Entscheidungen im Laufe seiner über zwanzigjährigrn Regierungszeit. Neben seiner staatsmännischen Tätigkeit widmet er sich mit Hingabe der griechischen Kunst, er fördert die Kultur und lässt eindrucksvolle Bauwerke errichten.

Der Selbstmord des bithynischen Knaben Antinous , den er leidenschaftlich liebt, stürzt ihn in Verzweiflung. Er versucht, ihm durch künstlerische Darstellungen ein Andenken zu bewahren. Mit dichterischem Feingefühl und hoher sprachlicher Qualität spürt Marguerite Yourcenar der historischen Persönlichkeit des Kaisers nach. Sie versetzt sich ge danklich in das Innere einer historischen Gestalt. „Ich fand Gefallen daran, dieses Porträt eines fast weisen Mannes zu erschaffen“, äußert sie in den Notizen zur Entstehung des Buches. „In gewissem Sinn ist jedes Leben beispielhaft“, schreibt sie.

Sie wirft die Frage nach dem existentiellen Verständnis des Menschen auf: „Der Mensch, was er zu sein vermeinte, was er sein wollte und was er war“. Die Teilnehmer des Literaturkreises diskutierten sehr lebhaft über das Buch, aber diesmal eher kontrovers. Während eine Gruppe sich beeindruckt von der hohen literarischen Qualität des Werkes zeigte und die psychologische und auch philosophische Fragestellung wertschätzte, gab es auch kritische Anmerkungen. Die historische Sichtweise auf Kaiser Hadrian entspreche nicht der authentischen Persönlichkeit Hadrians. Die unkritische Darstellung der Knabenliebe erscheine in der heutigen Zeit fragwürdig.

Ich selbst schließe mich der Meinung Thomas Manns an, der über das 1951 erschienene Buch „Ich zähmte die Wölfin“ äußerte: „Es ist das Schönste, das mir seit Langem vorgekommen.“ ASTRID WESSERLING